Als Nokia zerfiel, blieben viele fähige Leute übrig. Eine Firma hat sich in der Nähe von Kopenhagen neu gegründet: ID2ME. ID2ME hat nach recht kurzer Entwicklungsphase nun auch ein erstes Smartphone am Start – das ID1 für 399 Euro, um das es hier gehen soll.
Um das Grundkonzept des Smartphones aus Dänemark zu verstehen, hier zunächst einmal eines der kurzen Werbevideos:
Bei ID2ME hat man sich also dazu entschlossen, Android als Basis anzunehmen und damit auch das vorhandene App-Ökosystem. Allerdings setzt auch ID2ME auf einen eigenen Launcher (IDOS, siehe Video), der auf ein völlig anderes Bedienkonzept setzt, das durchaus eine Lernkurve hat, die nicht jeder bereit sein wird in Kauf zu nehmen.
Anders als Huawei, die sich stark an iOS für ihre Emotion UI orientieren, oder andere, die kaum noch von Stock-Android zu unterscheiden sind, gibt es im IDOS im Grunde nur drei Ansichten: Den Homescreen, der neben Uhr und Datum, Benachrichtigungen nach App sortiert als Bubbles anzeigt (s. o., links & Mitte), den App-Drawer, der sich mit einer Wischbewegung von links einblenden lässt (links unten) und die Kategorien, in die man Apps in Gruppen von 12 wegsortieren kann.
Kategorien sind auch nichts anderes als Ordner, die in einem Kreisformat dargestellt werden, um die gestenlastige Bedienung zu ermöglichen. Ich benutze das ID1 nun rund einen Monat als mein Hauptgerät und obwohl ich mich an die zwei Wischbewegungen für die Kategoriennavigation gewöhnen konnte, bin ich noch weit davon entfernt, meine “Apps erspüren zu können”. Das Bedienkonzept geht nämlich davon aus, dass man quasi ein Muskelgedächtnis dafür entwickelt, wo sich welche App befindet und man diese “praktisch blind” starten kann. Einmal vibrieren = eine App weiter. ID2ME nennt das Ganze “Drag’n’Release”.
Auch nach langem Auseinandersetzen mit der einstellbaren Empfindlichkeit für jede der Gesten (Kategorie wählen, App wählen, Startverzögerung), habe ich mich immer wieder dabei erwischt, einfach den App-Drawer zu öffnen und über die Schnellwahl der Anfangsbuchstaben, die App zu finden die ich brauchte, oder den App-Switcher zu benutzen, was grundsätzlich immer am Schnellsten ist. Selbst wenn man versucht, nur in einer Kategorie mit den meistbenutzten 12 Apps zu leben (Favoriten), ist es frustrierend, die genau gegenüberliegende App im Kreis starten zu wollen. Selbes gilt, wenn man kurz vorher leicht aus der Vertikal- in eine Waagerechtbewegung rutscht und die Kategorie wechselt, anstatt die App auszuwählen, zu der man wollte.
Ein Opfer dieser Benutzeroberfläche wird natürlich sofort klar: Widgets gibt es hier keine. Das Ziel war es – auch bei 5 Zoll und mehr – eine Oberfläche zu schaffen, die sich mit einer Hand bedienen lässt, ohne den gesamten Bildschirminhalt zu verkleinern (z.B. LG) oder herunterzurücken (iOS). Jemand, der ohne Widgets nicht leben kann – und die Idee dahinter war ja die, dass man für viele nur-lesen-Informationen eben keine App öffnen muss – sollte dien Finger vom ID1 lassen. Leider stürzt der Launcher auch einfach mal ab.
Die (Benchmark-)Leistung ist in etwa vergleichbar mit der eines Huawei Mate S oder ASUS Zenfone 2. die drei Geräte erhalten ganz ähnliche Scores. Setzt man hier den EVP ins Verhältnis, klingen 399 Euro schon ganz gut. Allerdings bekommt man das Mate S, das neben einen größeren Bildschirm und Metallgehäuse z.B. auch einen Fingerabdruckscanner hat, inzwischen auch um die 350 Euro.
Die Kamera von Sony, oder genauer: Der Kamerasensor von Sony sorgt zwar für gute Ergebnisse bei guter Beleuchtung, allerdings ist die hauseigene Kamera-App eher eine Hürde denn ein Helfer beim Fotografieren. Es ist zwar löblich, dass man wirklich alles einstellen kann, aber die Elemente sind wild über den Bildschirm verteilt und in den Einstellungen weiß man oft nicht, welcher Slider was genau macht. Der HDR-Modus ist leider unbenutzbar, da er oft auf überbelichteten Aufnahmen hängen bleibt, anstatt das Motiv in drei (oder mehr) Belichtungsstufen aufzunehmen.
Im Dunkeln kann man die Kamera ohne Blitz meist ganz vergessen. Auch scheint man zu sehr Wert auf eine nachträglich angelegte, künstlich wirkende, Bildschärfe gelegt zu haben, was zu fransenden Rändern um Bildinhalte führt (z. B. bei den eng stehenden Grashalmen, s. u.). Tatsächlich fand ich die Frontkamera weitaus konsistenter in ihren Ergebnissen, die eigentlich immer brauchbar waren (Selfies FTW). Dass die App noch Arbeit benötigt, ist eine Untertreibung. Bei längerer Verwendung, z. B. in Snapchat, wird das ID1 auch ziemlich heiß.
Beispielfotos
Das Deckglas stammt von AGC (Asahi Glass) und nicht von Corning. Es wird nicht erwähnt, aber es ist wahrscheinlich, dass es sich um eine Dragontrail-Variante handelt. Leider fühlt es sich an wie Fensterglas, sammelt sofort Fingerabdrücke und wischt sich einfach nicht besonders gut. Im Vergleich zu Geräten mit Gorilla Glass 3 oder 4, stellt es einer Wischbewegung zu viel Reibung entgegen. Den beim Auspacken bereits aufgeklebten Displayschutz musste ich entfernen, da dieser dafür sorgte, dass Eingaben manchmal nur bruchstückhaft, oder gar nicht, durch den Multitouch-Sensor aufgenommen wurden. Das inkonsistente Benutzererlebnis durch die Sensor-Glas-Kombination, fängt im Alltag an zu nerven.
Die Metallicrückseiten werden sich vermutlich alle ähnlich der beigelegten, roten Schale verhalten und ebenfalls Fingerabdrücke anziehen. Die matte, gummierte Rückseite allerdings weiß zu gefallen. Sie erhöht deutlich den Grip des sonst eher rutschig-flutschigen Gerätes und sorgt für eine angenehme Handhabung. Das Design hat mich an erste Lumias und die andere Nokia-Auskopplung, nämlich Jolla, erinnert. Hier gibt es auch ein paar Designentscheidungen, die ich nicht nachvollziehen kann. Wenn man schon wechselbare Rückseiten anbietet, warum versteckt man nicht gleich die Slots für microSD und SIM dahinter, anstatt die Seite damit visuell zuzumüllen? Jetzt muss man, nur wenn man mal das Cover wechseln will, beide Einschübe entfernen. Das der Akku nicht tauschbar ist, ist mir persönlich zwar egal, wäre so aber auch möglich gewesen.
A propos Akku: Der hält mit seinen 2.500 mAh keinen Tag. 10-12 Stunden sind schon drin, aber man sollte doch besser einen Akkupack dabei haben, wenn man viel mit seinem Smartphone spielt. In den Schalen befindet sich auch die NFC-Antenne – ein Feature, das sich leider bei meinem Gerät nicht aktivieren ließ. Beim Versuch NFC anzuschalten glitt der Schalter immer wieder von selbst in die Aus-Position zurück. Entweder gibt es ein Kontaktproblem mit den Antennen (bei beiden Schalen), oder dem Chip. Leider ist auch Bluetooth bei diesem ID1 sehr unzuverlässig. Von drei Bluetoothlautsprechern ließ sich nur einer koppeln und die Verbindung zu meiner Smartwatch war immer wieder von selbst unterbrochen und ließ sich nur mühsam wieder herstellen. Benachrichtigungen auf der Uhr zu empfangen war somit unmöglich. Wenn die Verbindung dann aktiv war, benötigte die Synchronisation mit der Uhr (Übertragen von Tracking-Daten) auch deutlich länger, als mit anderen Smartphones.
Spezifikationen
- Betriebssystem: Android 5.1 Lollipop mit IDOS 1.2.3
- SoC: MediaTek MT6752 64 bit Octa-Core mit 1,69 GHz mit Mali-T760 GPU
- Hauptkamera: 13 Megapixel von Sony (IMX214), HD-Video
- Frontkamera: 5 Megapixel Selfie-Kamera
- Bildschirm: 4,59 Zoll, Full-HD (1080 x 1920, 480 ppi), Multitouch, AGC Glass
- Speicher: 2 GB RAM + 16 GB mit Erweiterungsmöglichkeit auf 64 GB (entweder microSD oder 2. Nano-SIM)
- SIM: Nano-SIM, Dual-SIM (entweder 2. Nano-SIM oder microSD)
- Funk: GSM/HSPA/LTE, WLAN 802.11 a/b/g/n/ac + Dual-Band, BT 4.0 LE, NFC (Antenne im Cover)
- Anschlüsse: USB 2.0 (Mikro-USB-B) und 3,5 mm Klinke
- Akku: 2.500 mAh
- Features: Austauschbare Kunststoffschalen (Gummi oder Metallic), Stereolautsprecher, Radio, Doppeltap um Bildschirm aufzuwecken
ID2ME ruft für das ID1, das man ausschließlich über deren eigenen Webshop beziehen kann, 399 Euro auf. Im Lieferumfang befindet sich neben dem ID1 mit schwarzer, gummierter Schale, Ladegerät- & kabel und Anleitung auch eine metallic-rote Schale und ein einfaches Kopfhörerset.
Für das halbfertige Produkt (in Hard- wie auch Software), das man bekommt, finde ich 399 Euro deutlich zu hoch angesetzt. Der Preis kommt natürlich dadurch zu Stande, dass die Firma ihre Leute und die Entwicklungszeit bezahlen muss. Mit 100 Euro weniger, wie bei Jolla, wäre die Bereitschaft, ein fast völlig unbekanntes Team zu unterstützen, vielleicht höher. Leider machen einige gute Komponenten, noch kein sehr gutes Gesamtprodukt. Insbesondere, wenn die Software und die damit einhergehende User Experience in entscheidenden Punkten nicht mithalten kann, wird es schwer, das ID1 irgendwem zu empfehlen. Ich mag das Design schon gern, allerdings wirkt es nicht sehr hochwertig in der Hand. Insbesondere die glänzende Rückseite fand ich trotz der schicken knalligen Farbe eher unschön.
Tja und nun? Wer soll das kaufen? Es gibt hier ein paar sehr schöne Ideen. Allerdings gibt es bei der Einführung eines komplett anderen Bediensystems die Schwierigkeit, dass der ganze Planet das Bisherige kennt und täglich nutzt (man tippt wo drauf und dann passiert da was). Ein anderes Bedienkonzept muss also sofort verstanden werden können und hürdenlos einsetzbar sein, um überhaupt konkurrenzfähig zu sein und das sehe ich hier nicht. Dass man sich an alles gewöhnen kann, zählt als Antwort hierauf nicht und es ist ganz sicher keine gute Marketingstrategie. Hätte man sich bei ID2ME auf die bestmögliche Hardware zum angestrebten Preis, mit dänischem Design drumrum konzentriert und sofort mit blankem Android 6 ausgeliefert, sähe das Gesamturteil sicher anders aus. Doch so ist es ein Konzept, dass zu früh aus dem Labor auf den Markt gebracht wurde und an den Kanten doch sehr rau daherkommt. Jemand, der ganz neu zu einem Smartphone kommt, hat hier allerdings eine Option, ohne den Ballast des bisher Dagewesenen, an die Sache heranzugehen und es besteht für so eine Person durchaus die Chance, das ID1 als Smartphone zielorientierter und in kürzerer Verwendung, in den Alltag einzubinden.
Die Dänen bieten optional fünf weitere Schalen mit Preisen zwischen 27 und 34 € (Bronze) an. Außerdem (s. u.) gibt es einen Bluetoothlautsprecher in Form eines Pilzes für 39 €, höherwertige In-Ear-Kopfhörer mit Reißverschluss und Sportkopfhörer mit Bügel für je 27 €. Ebenfalls 27 Euro kostet ein externer Akku mit 3.000 mAh, mit dem man das ID1 einmal komplett laden könnte.
weiterführender Link: ID2ME
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